„An der Wirbelsäule wird viel zu viel operiert“
Von unserem Redaktionsmitglied ANGELIKA KLEEMANN
Sein Buch „Training ohne Reue – Trainiere (dich) gesund!“ ist eines der meistausgezeichneten Trainingsbücher im deutschsprachigen Raum. Der gebürtige Fuldaer Orthopäde und Sportmediziner Dr. CarlHeinz Ullrich (67), der in Heiligenhaus und Mettmann praktiziert, nahm sich drei Stunden Zeit, um im Garten des Wohnstifts Mediana über sein Buch, Sportverletzungen, Prophylaxe, den MRTHype und die Volkskrankheit Rückenleiden zu sprechen.
Dr. Ullrich über Sportverletzungen, MRT-Hype, Rücken und sein Buch „Training ohne Reue“
Was hat Sie bewogen, das Buch zu schreiben? Einige Kollegen hatten mich gebeten, meine Erfahrungen in der Sportmedizin als Buch zusammenzufassen. Immer
neue Anregungen kamen hinzu, so entwickelte sich das Buch. Die völlig überarbeitete sechste Auflage liegt nun vor Ihnen.
„Training ohne Reue“ ist eines der meistausgezeichneten Trainingsbücher. Hätten Sie mit solch einem Erfolg gerechnet?
Ganz einfach: nein!
Was verbirgt sich hinter dem Titel?
Jeder Mensch soll seinen Körper trainieren, natürlich immer seinen Möglichkeiten angepasst. Denn je besser die Muskulatur ausgebildet ist, desto besser sind Wirbelsäule und Gelenke geschützt. Vom gesteigerten Wohlbefinden und den günstigen Einwirkungen auf den Stoffwechsel und das Herz-Kreislaufsystem mal
ganz abgesehen. Ohne Reue impliziert, aus der Entlastungshaltung zu trainieren, also ohne schädliche Belastung von Wirbelsäule und Gelenken.
Für welche Zielgruppen ist das Buch geeignet?
Für jeden, der etwas für seine Gesundheit tun möchte. Die Erfahrungen kommen aus dem Spitzensport. Ich habe weit mehr als 100 Deutsche Meister, Europa- und Weltmeister sowie Olympiasieger betreut. Geeignet ist das Buch für alle: vom Hobby- bis zum Leistungssportler, vom gesunden Menschen bis hin zum Patienten.
Auf was darf sich der Leser freuen?
Das Buch soll zu einer vernünftigen sportlichen Betätigung gemäß den Regeln aus der Rücken-, Knie- und Schulterschule anregen, um Rückenund Gelenkbeschwerden vorzubeugen oder bei bereits eingetretenen Schäden Verschlimmerung zu verhindern und die Prognose zu verbessern. Das Buch widmet sich auch den wichtigen Themen Verhaltensmedizin und Ernährung und beinhaltet ein Ausgleichsprogramm für Leute in sitzender Tätigkeit sowie Übungsprogramme.
Was sind die häufigsten Fehler im Training?
Die Leute wollen zu viel in zu kurzer Zeit oder verlassen beim Training die Entlastungshaltung, schädigen durch falsche Übungen beispielsweise beim Bein- oder Armmuskeltraining den Rücken oder beim Rückentraining die Knie.
Ein großes Thema im Sport sind Verletzungen. Sind sie vermeidbar?
Überlastungsschäden ganz häufig. Verletzungen meines Erachtens auch. Da streitet man sich. Aber ich habe jahrelang die Deutschen Meister im Basketball trainiert und mit Stretching und Koordinationsübungen im Aufwärmprogramm die Verletztenquote sofort heruntergefahren. Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Trainer und Übungsleiter mit Sportmediziner und Physiotherapeuten. Der Arzt sollte nicht nur die Verletzungen behandeln, sondern vorher mitgucken, ob das Training okay ist. Wenn es dann doch zu einer Verletzung kommt. Was ist zu tun? Die PECH-Regel: Pause, Eis, Compression und Hochlagerung, damit sich Blutungen nicht ausbreiten. Den Salbenverband erst nach einem Tag anbringen, auch wenn es leider noch zu häufig anders praktiziert wird.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Relativ schnell. ,Stell dich nicht an, da musst du durch‘, den Spruch will ich nicht mehr hören. Der einfache Pferdekuss, eine Muskelverletzung in der Tiefe, kann Vernarbungen und Verkalkungen nach sich ziehen. Das kann im schlechtesten Falle für Sportler schon das Ende der Karriere bedeuten. Wenn der Sportler im wichtigen Muskel eine fette Narbe hat, kann er nicht mehr so sprinten wie vorher. Wir Laien oder Dr. Googles sind mit großem Halbwissen ausgestattet.
Helfen Sie uns mit Tipps bei Verletzungen: Wärme oder Kälte?
Akut Kälte, chronisch Wärme.
Schmerzmittel?
Im ersten Moment sollte man sie genauso wenig nehmen wie die durchblutungsfördernde Salbe. Kein Ibuprophen, kein Diclofenac, kein Aspirin, weil diese Medikamente durchblutungsfördernd sind. Die sollte man frühestens nach einem halben Tag nehmen. Gegen eine Paracetamol ist nichts einzuwenden.
Tape?
Kinesiotapes sind supergut. Aber alles, was eine gute Wirkung hat, kann auch Nebenwirkungen haben. Wenn ich sehe, wie manche Leute getaped sind … Man sollte sich schon mit der Anatomie des Körpers auskennen. Ruhe oder moderate Bewegung? Wenn ich einen Bruch habe, brauche ich erst einmal kurz Ruhe, sollte dann aber schnellstmöglich wieder in die Bewegung kommen. Denn die Muskulatur schmilzt rasend. Was in einer Woche wegschmilzt, dafür braucht der Profi acht bis zehn Wochen, um diesen Verlust zu kompensieren, der Laie noch länger. Deshalb: wenig ruhigstellen, ein Tapeverband ist sinnvoller. Im Sport ist das Verletzungsrisiko enorm gestiegen, gerade Fußballer scheinen immer anfälliger zu werden.
Worauf führen Sie das zurück?
Der Fußball ist immer schneller geworden. Bei der Weltmeisterschaft in Rom 1980 dauerte ein Ballkontakt glaube ich 7,5 Sekunden, bei der letzten WM in Brasilien nur noch 1,7 Sekunden. Zudem ist das Pensum zu umfangreich. Spieler schaffen es nicht, alle drei Tage Hochleistung zu bringen. Das können Menschen nicht. Ein Kreuzbandriss ist der Gau.
Kann man sich davor schützen und wie lange dauert es, bis das Knie wieder stabil ist?
Die beste Prophylaxe ist eine gut ausgebildete Muskulatur, die das Gelenk somit optimal schützen kann. Nach einem Kreuzbandriss dauert es ein Dreivierteljahr, bis der Sport wieder ausgeübt werden kann, sonst drohen vorzeitige Spätschäden. Es gibt einen einfachen Test: Wer nach einer Kreuzband-OP ohne Beschwerden auf einer weichen Matte einbeinig den Fersen- und Zehenstand schafft, kann mit dem Sport beginnen. Also kann man guten Gewissens nach einem Kreuzbandriss wieder Sport treiben, ohne Angst vor Spätschäden haben zu müssen? Die sogenannten Meniskusverletzungen rufen noch mehr Früharthrose hervor als Kreuzbandrisse. Der Meniskus ist noch wichtiger als das Kreuzband. Aber häufig ist es eine Komplexverletzung, die das ganze Knie betrifft. Bei mir war alles kaputt: Kreuzband, Innenbänder, Meniskus. Und man hat mir gesagt, ich werde nie wieder Sport treiben können. Ich mache alles wieder.
Kommen wir zur Volkskrankheit Rücken, eines Ihrer Spezialgebiete. Was hilft bei Rückenschmerzen?
Wechselnde Bewegungen. Mal sitzen, mal liegen, mehr Stufenlagerung, dann wieder aufstehen. Auf keinen Fall sollte man sich mit dem Ischias ins Bett legen. In der Ruhe konzentrieren sich die Nerven so richtig auf den Schmerz. Auch bei Kopfschmerzen sollte man sich nicht sofort ins dunkle Zimmer legen, nur dann, wenn es richtig schlimm ist. Ansonsten ist Ablenkung das Beste. Wenn du im Wohnzimmer bist, gehst du in den Garten. Ein bisschen Reflextherapie, etwas Tigerbalsam und vor allem Ablenkung.
Warum Ablenkung?
Der Nerv wird gedrückt und verursacht Schmerzen. Mache ich jetzt irgendetwas anderes, ist die Synapse besetzt, zu der der Schmerznerv ins Gehirn will. Andere Eindrücke überwiegen. So kann man ganz häufig Schmerzen durchbrechen. Die positive Wirkung von positivem Erleben lindert Schmerzen, darüber gibt es Untersuchungen.
Viele Patienten fordern nach Akutverletzungen oder lange anhaltenden Beschwerden ein MRT. Ist das sinnvoll und schließt es vor allem Fehldiagnosen aus?
Das Wichtigste ist eine umfassende Untersuchung. Hirn und Hände sind wichtiger als jedes Kernspin und jedes CT. Ich brauche nur ein Zehntel der MRTs wie Hausärzte und setze es als zusätzliches Hilfsmittel ein, wenn ich mir nicht ganz sicher bin. Oder wenn der Patient gravierende Ausfälle hat oder eine Operation wahrscheinlich notwendig ist.
Worin sehen Sie die Gefahr des MRT-Wahns?
Das, was ich auf dem MRT sehe, muss nicht zwangsläufig die Ursache für die Beschwerden sein. Das heißt? Jeder Meniskusriss oder Bandscheibenvorfall im Kernspin muss keine Beschwerden verursachen. Die Hälfte aller Leute mit gesichertem Meniskusriss haben keine Beschwerden. Es wäre völlig idiotisch, die zu operieren.
Es gibt mehr Menschen mit einem Bandscheibenvorfall, die keine Beschwerden haben, als welche mit Beschwerden. Wo kommen die Rückenschmerzen dann her?
Zwei Drittel aller Beschwerden am Rücken verursachen nicht die Bandscheiben, sondern die Wirbelgelenke. Die Gelenkkapseln sind durch häufige statische Belastungen geschädigt. Büroarbeit ist beispielsweise für den Rücken schlechter als körperliche Arbeit unter Tage. Der Büromensch besitzt eine verkümmerte Muskulatur. Die Wirbelgelenke schieben sich durch die lang anhaltende einseitige Belastung zusammen, die Kapsel wird dick, der Nerv wird gedrückt. Der schickt eine Meldung an die Muskulatur: Bitte hilf mir! Die Muskulatur kommt zu einer Dauerspannung, kann nicht entlasten, das gibt die Knoten, die Myogelosen.
Was verschafft Linderung?
Schmerzmittel wie Diclofenac oder Ibuprophen lindern die Schmerzen etwas, Einreibungen, Bestrahlung und Sonne sorgen für Entspannung, auch Injektionen sind möglich, sodass die Kapsel abschwillt, das Loch für die Nerven größer wird, die Schmerzen nachlassen, die Muskulatur entspannt sich. Damit es erst gar nicht so weit kommt, sind kurze Bewegungspausen für Menschen mit sitzender Beschäftigung, Schüler und Studenten so wichtig. In meinem Reue-Buch stelle ich ein Ausgleichsprogramm vor, das am Arbeitsplatz umgesetzt werden kann. Einfach mal häufiger die Sitzhaltung wechseln sowie Kopf-, Schulter-, Wirbelsäulenund Beckenmuskulatur zwischendurch dehnen.
Wird bei Rückenbeschwerden zu schnell operiert?
Ich mache mich jetzt wieder unbeliebt. Aber gerade im Bereich der Wirbelsäule wird immer noch viel zu viel operiert. Weil es sich viel mehr lohnt. Ich habe gemeinsam mit Professor Krämer aus Bochum ein konservatives, stationäres Programm entwickelt, das jedoch selten Anwendung findet, weil es zu wenig honoriert wird.
Was beinhaltet das Programm?
Zuerst werden die Patienten gründlich untersucht, erhalten dann spezielle Rückeninjektionen und physikalische Therapie. Zudem bekommen sie Anleitungen der Rückenschule, also Vermeidung ungünstigen Bewegungsverhaltens sowie Erlernen günstigen Verhaltens.
Wie halten Sie sich fit?
Ich gehe jeden Morgen mit den Hunden raus, integriere einfache Übungen ohne Zeitverlust in den Tagesablauf. Beispielsweise putze ich mir morgens die Zähne im Einbeinstand mit leicht gebeugtem Standbein. Ich spiele noch Tennis, gehe Windsurfen und Skifahren, fahre Rad und wandere.
Hört sich nach einem Mann von bester Gesundheit an.
Ich hatte 16 Operationen, darunter mehrere Krebs-OPs. Ich kann aber sagen, es geht mir gut.
Was ist Ihr Lebensmotto?
Wer rastet, der rostet. Das habe ich von meinem Vater, der über 90 Jahre alt geworden ist. Aber nächstes Jahr werde ich nur noch halbtags arbeiten.